Versteckt in Marseille

Der Autor

Zwei Leseproben

Marseille. Wie Eddy und Paul Freunde fürs Leben wurden – Eddy ein großer Bordellchef, Paul sein kleiner Verwalter

Paul und Eddy saßen vom ersten Tag an nebeneinander auf der Schulbank. In der dritten Klasse interessierten Paul nicht mehr die Fleißbildchen, sondern die Bilder, die Eddy mitbrachte. Das erste kolorierte mit einer nackten Frau kostete Paul nichts, aber, so meinte Eddy leichthin, „wenn du mehr haben willst, weißt du, so mit Frauen und Männern zusammen, mit allem, dann kostet es was ...“. Paul hat mit sich gekämpft, Eddy hat nichts aufgedrängt, nur, dass die Bilder bald alle verkauft seien, wenn er sich nicht entschlösse.
„Kann ich mir eins anschauen?“
„Nein, ganz oder gar nicht.“
„Ich habe gedacht, du bist mein Freund.“
„Also gut – nur weil wir Freunde sind – zeig ich dir in der Pause eins.“
Paul konnte es kaum erwarten.
Für einen Radiergummi, einen neuen, mit rotem und blauem Spezialteil, erhielt er drei mit schönen Frauen und muskelbepackten Männern. Und welche Prachtexemplare, die diese Kerle zwischen den Beinen hatten. Sowas zu haben dauerte gewiss noch Jahre.

Nach der Pause passierte es.
Mademoiselle Dubois, die Lehrerin, war informiert.
Sie sah so hart aus, wie die Holzbänke es für die zarten Popobacken der Kleinen waren, schmale Lippen, Haarknoten, blaue Augen.
Gleich nach der Pause durchsuchte sie Eddies Büchertasche. Weg waren sie.
„Wo sind sie? Du weißt, wovon ich spreche!“. Madame war außer sich.
„Nein, Mademoiselle ... was denn?“.
Mademoiselle war weiß im Gesicht.
Ihr linkes Lid zuckte. Das tat es selten. Das letzte Mal war es, als der Schulrat kam.
Sie ließ Eddy und seinen Banknachbarn Paul aufstehen.

Pauls Ranzen fiel um. Die Bildchen glitten auf den grünen gewachsten Boden.
Mademoiselle sah sofort den Muskelmann: „Was“, schrie sie, „Du auch?“.
„Ah, du hast es von Eddy!“ Das peinliche Verhör begann.
„Gib es zu, du hast die Bilder von Eddy ...“. Im Schulsaal war es mucksmäuschenstill. Die Buben wussten alle Bescheid und wer nicht, der wollte am liebsten die schlimmen Bildchen sehen.
Die hatte Mademoiselle eingesteckt. Eddy rückte aus ihrem Focus.
Es war der stille Paul, den sie nun auspresste ... da konnte sie lange pressen. Paul schwieg.
Er schwieg einfach.

Die Mama wurde informiert, die hatte andere Sorgen. Als alleinstehende Mutter musste sie sich durchschlagen und der Onkel, Pauls Pate, zuckte mit den Schultern. „Die Jugend,“ sagte er zu seiner Schwester, „fängt immer früher an. Mein Gott, die Jungfer soll sich nicht so haben.“
Mademoiselle Dubois, zog alle Register. Paul musste seitenlang den frommen Text abschreiben, der ihn fortan still begleitete:

‚Mit gar manchem Weh im Herzen
Zog ich Mutter her zu Dir!
Stillen Trost in allen Schmerzen,
Hilf´und Heil such‘ fromm ich hier!
So voll Milde blickst im Bilde
Du herab auf mich, dein Kind.
Dass die Schmerzen tief im Herzen
Fast schon wie verschwunden sind!‘

Am folgenden Mittwoch und Samstag musste Paul den Schulhof kehren.
Eddy hatte er nicht verraten. Und Eddy fand das großartig.
Das war der Beginn ihrer Freundschaft.

Das blieb so über die Jahre. Eddy schleppte Paul überall mit, schon deshalb, damit er nicht alleine war.
Nur bei der Musterung – da trennten sich ihre Wege. Paul wollte schon immer zur Marine. Eddy ging zur Infanterie.

Beide waren zwanzig Jahre alt, als sie 1914 an die Front mussten.

Eddy hatte seinen Schutzengel, Paul auch. Nur einmal, am 19. März 1917 passte der Engel nicht auf. Zwei Torpedos trafen Pauls Schlachtschiff ‚Danton‘ vor Sardinien. Der Stromgenerator fiel aus, nichts funktionierte mehr. Paul und ein Dutzend Kameraden schafften es bis zum letzten freien Rettungsboot – aber der Seilzug bewegte sich nicht, keinen Millimeter.
Die Muttern hatten sich festgebacken.
Paul hängte sich mit seiner ganzen Verzweiflung an den riesigen Schraubenschlüssel, die erste Schraube drehte sich, dann die zweite und bei der dritten, der letzten, verlor er das Gleichgewicht. Er griff in den Seilzug, der ihm vier Finger der linken Hand abschnitt.
Ohnmächtig vor Schmerz stürzte Paul hinunter ins Wasser. Das Boot mit den Matrosen glitt hinab, zwanzig, dreißig Meter von Paul entfernt.
Die Kameraden holten ihn ins Boot. Stunden später rettete sie der Zerstörer ‚Massue‘.

Für Eddy war der Große Krieg ein Jahr früher aus, genau am 2. März 1916 in Douaumont bei Verdun. Dafür hatte er später nur einen Satz übrig. „Die Deutschen umzingelten uns und sperrten uns ins Gefangenenlager Limburg, fertig.“ Heldengeschichten lagen ihm nicht.

Von seiner Gefangenschaft im Westerwald erzählte er Paul gleich nach seiner Rückkehr Ende 1918 ausführlicher:
„250 Mann hausten in meiner Baracke. Wir hungerten, die Zivilisten draußen hungerten aber auch. Immerhin sind wir nicht verhungert. Es gab Rüben, Kartoffelbrot mit Sägemehl und Rinderblut, Bohnensuppe und hin und wieder Hafer und Backpflaumen.
Päckchen von zuhause waren wichtig. Unter dem Wachpersonal gab es aber ´Franzosenhasser´. Die klauten zwar nichts aus den Paketen, aber hatten ihre Freude daran, alles zu vermengen: Würstchen mit Sardinen aus Dosen und dazu Biskuit, Marmelade und Nudeln.“

Eddy musste schlucken und sich räuspern. Zu gern hätte er damals diesem Mistkerl die Mischung ins Gesicht geklebt. Aber er dachte an die Folgen. Die Strafe hierfür wollte er sich gar nicht ausdenken, gab es doch für ‚Nichtgrüßen‘ oder den Besitz eines normalen Tagebuchs sofort ‚Essensreduzierung‘ oder ‚Stehen am Pfahl‘, einen Tag und eine Nacht oder länger.

Ein besseres Essen gab es nur, wenn man sich zur Feldarbeit bei Bauern meldete. Das war nicht Eddys Ding. Er meldete sich für den Sanitätsdienst in der Baracke. Dort konnte er sich mit Schmierseife waschen. Die Rationen Verstorbener bekamen die Sanitäter auch.
Spätabends war es dort meistens ruhig. Der Lagerleiter war schon alt, sein Stellvertreter ebenso und beide müde vom Tag und dem Bier. Die kamen nie.

„Ich gefiel dem Sanitätsgefreiten, und wenn der Aufsicht hatte, bestellte er mich zum Dienst. Waren wir allein, holte er aus dem Rot-Kreuz-Schrank, hinten versteckt, ein braunes Fläschchen. Er öffnete es, ließ mich daran schnüffeln. Dann schnüffelte er, verschloss es und stellte es zurück. Die Wirkung war sensationell. Ich war nur noch mein Wunderhorn, nichts anderes. Es hörte nach einer halben Stunde wieder auf. Mitunter halfen wir uns gegenseitig.
Später schaute ich mal aufs Etikett, der Name sagte mir nichts. Aber ich habe mir ihn eingeprägt: ‚Amylnitrit‘. Anderen sollte es bei Herzproblemen helfen. Wir waren nur turbogeil.“

Endlich war der Krieg aus. Mit Kameraden aus Burgund und dem Rhônetal machte er sich zu Fuß auf durch den Westerwald, immer nach Westen bis nach Koblenz. Dort stiegen sie in einen leeren Güter-Waggon und fuhren bis nach Karlsruhe. Es war Dezember und kalt im Rheintal, drei Grad plus. Sie waren froh, bei einem Bauern in der Scheune übernachten zu dürfen. Am Morgen brachte der Deutsche ihnen eine Kanne heißen Eichel-Kaffee und einen Stollen Brot. Er sagte nichts, außer dass sein Sohn auch auf dem Heimweg sei, nur in die andere Richtung.
(....)


Marseille, Januar 1943. Kurt mit dem Eisernen Kreuz, mit Vater und Mutter in der Hautklinik Würzburg

„Komm, ich platze vor Neugierde. Erzähl! Wie war es denn daheim?“, fragte Erich.
„Aufregend.“
Kurti drehte sich um, kein Mensch war weit und breit zu sehen.

„Ich kam also in Würzburg an. Mit der Bahn hatte ich Glück, keine Fliegerangriffe, nur Umstiege in Lyon, Straßburg und Frankfurt. Natürlich war ich hundemüde. In der Uniklinik ließen sie mich erst mal bis zum nächsten Morgen in Ruhe. Die Nonnen besorgten mir ein Bett und etwas zu essen. Die Klinikverwaltung bestellte noch in der Nacht meine Eltern für den nächsten Vormittag nach Würzburg. Wir haben uns gefreut, aber zugleich gewundert über diese Ein- oder Vorladung..

Wir warteten in einem kleinen Hörsaal. Ein kahlköpfiger, altersloser Mediziner mit randloser Brille und Parteiabzeichen grüßte mit ‚Heil‘ und ließ mich nochmal erzählen, was ich für Hautprobleme hätte. Der schrieb alles auf.

Dann kam das Oberhaupt der Hautklinik, ein Professor mit Gefolge. Es war wie eine Gerichtsverhandlung. Dieser Professor hatte unangenehm stechende Augen. Ich wurde an den Rand gesetzt.

Der Professor war darauf versessen zu hören, dass es schon früher solche Schwellungen in unseren Familien und unserer Verwandtschaft gegeben habe. Der und zwei seiner Paladine nahmen meine Eltern ins Kreuzverhör. Als meine Mutter still zu weinen begann, stand mein Vater auf und verlangte energisch eine Pause. Er müsse telefonieren.
Von der Pforte aus ließ er sich mit der NSDAP-Kreisleitung in Schweinfurt verbinden. Da war niemand zu erreichen. Dann hat er mit dem Schweinfurter OB gesprochen. Die kennen sich aus der Kampfzeit. Und weißt du, was der Bürgermeister erzählt hat? Der Professor sammele Fälle von Hautkrankheiten – und jetzt wörtlich – ‚im Hinblick auf die Umsetzung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘. Nicht gleich, aber im Ergebnis hätten wir gegebenenfalls mit unserer Sterilisierung zu rechnen. Er versprach sofort die Gauleitung anzurufen. Wir sollten um eine Gesprächsunterbrechung bitten mit dem Hinweis auf Gespräche mit der Partei, die im Moment liefen.
Das haben wir getan.

Als Erster verschwand der Professor, kurz drauf sein Gefolge.
Zehn Minuten später kam eine Nonne und brachte uns Kohlrouladen mit Salzkartoffeln. Nach einer halben Stunde erschien eine ältere Dame, die Sekretärin des Professors schätze ich, mit der Erklärung, es habe sich alles aufgeklärt. Sie gab uns eine Reiseabrechnung und legte das Geld für unsere Bahnfahrt auf den Tisch.

Wir gingen zum Hauptbahnhof. Mama und Papa nahmen mich in ihre Mitte. Unsere Anspannung wich mehr und mehr mit jedem Schritt. Und im Hauptbahnhof, unter den vielen Leuten dort, spürte ich, wie stolz meine Eltern auf mich und mein Eisernes Kreuz waren. Ich selbst fühlte mich klein und unterlegen. Dass ich mich von den Medizinern so an den Rand habe setzen lassen, dass mein Vater aufgestanden ist und nicht ich, dass es die alten Freunde im Schweinfurter Rathaus und in der Gauleitung waren, die nötig waren, uns zu befreien. Ich habe mich so geschämt.“
„Scham?“, fragte Erich zurück. „Ich glaube, für mich wäre es diese Hilflosigkeit gewesen, denen in der Klinik ausgeliefert gewesen zu sein.“
Die beiden waren schon die ganze Zeit gestanden.

„Komm‘“, sagte Erich, wir laufen ein Stück.

„Ja“, sagte Kurti, „dann setzen wir uns und trinken einen Kräuterschnaps, denn ich hab noch mehr.“
„Wie noch mehr?“, fragte Erich.
„Ja, ich hab noch mehr zu erzählen. Da brauche ich erst einen Schnaps. Ich hab mir selber einen gekauft. Keine Angst, ich werde schon nicht zum Alkoholiker. Zuviel Alkohol funktioniert bei mir wie früher. Wenn ich zu viel getrunken habe, dann kreist alles im Kopf und ich muss kübeln wie ein Reiher.“
„Also gut, bis da unten zur Baumgruppe, das sind keine tausend Meter. Da ist es windgeschützt.“ Beide liefen los.
„Angekommen, Erster“, rief Erich wie früher.

Sie setzten sich auf dürre Baumstämme und Kurti holte die Schnapsflasche, Erich den Tee in der Feldflasche und die belegten Brote aus dem Rucksack.
„Ist es so schlimm?“, fragte Erich.
„Na ja. Ich hatte für die Fahrt nach Würzburg bis 25. Dezember frei bekommen. Ich fuhr mit meinen Eltern nach Schweinfurt.
Gleich am nächsten Tag bin ich mit ihnen in die Weinberge. In diesem Jahr haben sich die beiden – die Nachbarn aber auch – in den Kopf gesetzt, Eiswein herzustellen. Der lässt sich gut verschenken und gegen dies und das eintauschen.

Ich bin also mit in den Weinberg.
Wie immer bin ich erst auf den Turm der Peterstirn gestiegen. Von da oben aus den braunen, breiten Main zu sehen, dazwischen die Reihen der Rebstöcke (...).

 

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Versteckt in Marseille

Im Frühsommer 1940 hatte die deutsche Wehrmacht Frankreich bezwungen.

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